Der Aspekt (von lateinisch aspectus „Hinsehen, Anblick, Blickrichtung“ zu aspicere „hinsehen, ansehen“) bezeichnet in der Linguistik eine grammatische Kategorie des Verbs. Der Aspekt drückt Unterscheidungen darin aus, wie sich die vom Verb beschriebene Situation relativ zur betrachteten Zeit erstreckt. Eine typische Aspekt-Unterscheidung besteht dann darin, ob ein Ereignis im Betrachtszeitraum vollständig enthalten ist und zum Abschluss gelangt (vollendeter Aspekt) oder ob es nicht vollständig enthalten ist (unvollendeter Aspekt).[1]
Aspekt unterscheidet sich von der benachbarten Kategorie Tempus dadurch, dass das Tempus vielmehr das Verhältnis einer betrachteten Zeit zur Sprechzeit ausdrückt (man redet über die Vergangenheit bzw. Zukunft). Das Tempus ist am Sprechzeitpunkt, dem Jetzt, verankert, also deiktisch. Nicht so der Aspekt: Er beschreibt nur die Relation zwischen dem betrachteten Zeitraum und der Ausdehnung der beschriebenen Situation. Dieses Paar aus Betrachtzeit und Situationszeit kann dann als Ganzes in die Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft eingeordnet werden. Dementsprechend wird in vielen Sprachen die Kategorie des Aspekts zusätzlich zum Tempus ausgedrückt, wobei es auch Formen geben kann, die Aspekt- und Tempusangaben in eins kombinieren (so etwa in den Romanischen Sprachen).
Der Aspekt kann durch Wortformen des Verbs, also morphologisch realisiert sein, das heißt, es gibt unterschiedliche Konjugationsendungen oder bestimmte Stammveränderungen im Verb zur Darstellung des Aspektes.[2] Im Englischen hat die Verlaufsform die Funktion eines unvollendeten Aspekts, d. h. hier wird Aspekt durch ein Hilfsverb ausgedrückt.
Sprachen, die den Aspekt nicht als grammatische Kategorie markieren, wie etwa das (Standard-)Deutsche, können sich anderer Ausdrucksmittel bedienen, zum Beispiel kann die Information, die durch einen unvollendeten Aspekt vermittelt wird, im Deutschen oft durch Adverbien wie „gerade“ oder „immer“ signalisiert werden.[3] (Zum Beispiel: „Sie bäckt gerade einen Kuchen, er ist aber noch nicht fertig.“)
Vom Aspekt wird die Aktionsart unterschieden, die nicht wie der Aspekt eine grammatische Kategorie ist, sondern eine Klassifikation von Wortbedeutungen darstellt.[4] Aktionsart wird allerdings, vor allem in der englischsprachigen Fachliteratur, auch lexikalischer Aspekt (oder situation aspect[5]) genannt. Diese Verwendungsweise stammt aus der Betrachtung des Russischen, das keine separaten Flexionsmorpheme zum Ausdruck des Aspekts besitzt, sondern den Aspekt mithilfe der Morphologie zur Bildung von Aktionsarten ausdrücken muss, d. h. indem zum Beispiel vom Verb читать (tschitat') „lesen“ zunächst eine perfektive Aktionsart прочитать (protschitat') „durchlesen“ gebildet wird, die dann auch allgemein für den perfektiven Aspekt dieses Verbes ohne die aktionsartliche Modifikation der Semantik steht. Die reine Aktionsart kann allerdings auch wieder in den imperfektiven Aspekt zurückgebildet werden: прочитывать (protschityvat') „durchlesen“. Durch diese Verwendungen der Bezeichnung entsteht eine Unschärfe darin, ob mit Aspekt eine grammatische Kategorie gemeint ist (wie oben) oder allgemeinere zeitbezogene Eigenschaften von Verbbedeutungen.