Das Sinngedicht

Das Sinngedicht, Erstdruck 1881

Das Sinngedicht ist ein Novellenzyklus des Schweizer Dichters Gottfried Keller. Erste Ideen zu dem Werk notierte Keller sich 1851 in Berlin, wo er 1855 auch die Anfangskapitel zu Papier brachte. Der größte Teil des Textes entstand jedoch erst 1881 in Zürich, während bereits der Vorabdruck in der Deutschen Rundschau stattfand. Eine erweiterte Buchfassung folgte Ende des Jahres.

Der Zyklus ist nach einem Sinngedicht (Epigramm) des Barock-Poeten Friedrich von Logau benannt, welches darin eine Rolle spielt. Es lautet: „Wie willst du weiße Lilien zu roten Rosen machen? / Küß eine weiße Galathee: sie wird errötend lachen!“ Galateia, (Galatea, Galathée), schönste der Töchter des Meergottes Nereus, galt von alters her als Verkörperung der erregenden, zugleich aber auch zügelnden Wirkung weiblicher Schönheit auf das männliche Begehren. Im Geiste der galanten Poesie wendet sich Friedrich von Logau an junge Kavaliere und gibt ihnen „durch die Blume“ den Rat, sich keine allzu strengen Zügel anlegen zu lassen. Dichter und Publikum des 19. Jahrhunderts verbanden mit dem Namen Galathee außerdem das Ovidsche Verwandlungsmärchen vom Künstler Pygmalion, der sich mangels einer liebenswürdigen Gefährtin eine Elfenbeinstatue erschafft, worauf die Götter sich seiner erbarmen und das Bildwerk unter seinem Kuss lebendig werden lassen.

Die sieben Sinngedicht-Novellen,[1] deren jede eine glückliche oder unglückliche Liebeswahl zum Thema hat, sind in eine Rahmenerzählung eingeflochten, die selbst eine Liebesnovelle ist. Diese spielt im Deutschland der 1850er Jahre in der romantischen Umgebung einer Universitätsstadt. Von dort reitet an einem schönen Junimorgen der junge Naturforscher Herr Reinhart aus, um – wie er es nennt – wissenschaftliche Beobachtungen anzustellen. Abends gelangt er hoch überm Tal zum Landsitz der bücherliebenden und sprachenkundigen Lucie. Herr Reinhart ist von der Schönheit und dem Witz seiner Gastgeberin bezaubert; zugleich fühlt er sich von ihrer geistigen Selbständigkeit herausgefordert. In dieser Laune teilt er ihr das Logausche Sinngedicht mit, das ihm als erotischer Reiseführer und Anleitung zu Kuss-Experimenten dient. Als er obendrein seine tagsüber gesammelten Erfahrungen zum Besten gibt – eine hat beim Kuss nur gelacht, eine andere ist nur errötet, bei einer dritten hat er den Versuch abgebrochen – straft ihn die erzürnte Lucie mit der Geschichte von einer törichten Person, die sich mit erschlichenen Küssen unglücklich macht. Damit eröffnet sie ein Streitgespräch anhand von Beispielerzählungen, welches sich um die geistige Ebenbürtigkeit von Mann und Frau als Voraussetzung glücklicher Ehen dreht. Zu Lucies Freude erweist sich Reinhart nicht als Herzensbrecher, sondern als schicksalkundiger Erzähler; zu ihrem Ärger lässt er die Helden seiner Geschichten nur dann eine glückliche Wahl treffen, wenn sie sich mit demütig-dienstbaren Frauen verbinden. Da steuert Lucies Oheim, ein alter Kavallerieoberst, eine persönliche Erfahrung bei und versetzt damit Reinharts Glauben an die männliche Wahlfreiheit in der Liebe einen schweren Stoß. Noch einmal holt der Gast weit aus und beeindruckt mit der Geschichte eines portugiesischen Seefahrers, der seine Zukünftige, eine afrikanische Sklavin, buchstäblich vom Boden aufliest. Doch Lucie kontert elegant mit einer jungen Indianerin, die einem französischen Offizier die Trophäen seiner Herzensbrecherkarriere abjagt. Entwaffnet räumt der Forscher das Feld, kehrt aber wieder, – und nun wächst die Zuneigung der beiden rasch über die Freundschaft hinaus und flammt als große Liebe auf. Beim Kuss errötet Lucie und lacht dazu: das Logausche Epigramm hat sich bewährt.

Das Sinngedicht bescherte Keller bei der zeitgenössischen Leserschaft und Literaturkritik den größten Erfolg seiner schriftstellerischen Laufbahn. In rascher Folge erschienen mehrere Auflagen. Rezensenten bescheinigten dem Autor klassisches Format und stellten das Werk an die Seite des Decamerone. Literaturhistoriker rühmten die Verflechtung von Rahmenhandlung und Binnenerzählungen als einzigartig kunstvoll. Letzteres wurde später auch bestritten: Der Wandel des literarischen Geschmacks, der im 20. Jahrhundert eintrat, erschwerte Lesern und Kritikern den Zugang zu einem Werk, dessen Autor modernen Themen bewusst aus dem Weg zu gehen schien. Dass die Erzählung in Wirklichkeit ein breites Spektrum solcher Themen entfaltet, unter ihnen so aktuelle wie das Verhältnis der Geschlechter und das Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaft („Zwei Kulturen“), wurde erst ab den 1960er Jahren deutlich, als sich die Literaturwissenschaft mit Erzähltheorie, Gender Studies, Diskursanalyse, Wissenschaftsgeschichte neue Forschungsgebiete erschloss. Wegen seiner Themenvielfalt stellt der Zyklus hohe Anforderungen an die Interpreten. Vor allem die Frage nach Kellers Haltung zur Frauenemanzipation und zum naturwissenschaftlichen Fortschritt fordert zu kontroversen Deutungen heraus. Einig sind sich die meisten Interpreten über die hohe literarische Qualität des Werks.

Keller gliederte den Text in dreizehn Kapitel. Vom siebten bis zum zwölften sind diese mit dem Titel der Novelle überschrieben, die darin erzählt wird. Davor und zum Schluss kündigen die Überschriften an, was im Kapitel geschieht. Dieser Kunstgriff, nach dem Muster des Don Quijote, taucht die Unternehmung des Herrn Reinhart in ein heiter-ironisches Licht. Die Rahmengeschichte ist durchweg aus der Perspektive der männlichen Hauptfigur erzählt. Der fahrende Naturforscher fasst seine Kussabenteuer anfänglich als Schritte einer wissenschaftlichen Versuchsreihe auf, nimmt sich dabei aber nicht halb so ernst wie Cervantes' sinnreicher Junker von der Mancha.

  1. Die Zahl der Binnenerzählungen wird unterschiedlich angegeben: Fünf sind es unter verlegerischem Gesichtspunkt (Regine, Die arme Baronin, Die Geisterseher, Don Correa und Die Berlocken erschienen mehrfach separat); sechs unter Berücksichtigung von Lucies erster Erzählung (Von einer törichten Jungfrau); sieben, wenn man Lucies Jugendgeschichte mitrechnet, die ohne eigene Überschrift im Schlusskapitel erzählt wird. Nach Hugo Aust zeugt die unsichere Zählung für die innigen Verflechtung von Rahmen und Einlagen (Novelle, Sammlung Metzler Bd. 256, 4. Aufl. Stuttgart 2006, S. 121). Nach Christine Mielke ist Das Sinngedicht formal zwar ein Rahmenzyklus, nähert sich aber inhaltlich einem Roman (Zyklisch serielle Narration. Erzähltes Erzählen von 1001 Nacht bis zur TV-Serie. Walter de Gruyter, Berlin und New York 2006, S. 202).

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